Eckhard Kruses Seiten
Physikalische Medialität
Sieben Gründe Physikalische Medialität zu erforschen – selbst wenn man sie für Quatsch hält
Dieser Artikel ist auch im Psi-Info 8/2015 erschienen, online abrufbar bei bpv.ch, sowie in einer englischen Fassung im Paranormal Review, The Magazine of the Society of Psychical Research, Issue 82, Spring 2017.

Die mittlerweile mehr als hundertjährige Erforschung der Physikalischen Medialität ist nach wie vor fast ausschließlich von einer einzigen Frage geprägt: Sind die Phänomene echt oder Betrug? Trotz wissenschaftlicher Studien und beeindruckender Experimente prallen Befürworter und Gegner immer wieder unversöhnlich aufeinander, manche Veröffentlichung erinnert eher an Glaubenskriege denn an Forschung und was die Erklärung der Phänomene angeht, ist man kaum weitergekommen. Mir scheint es daher hilfreich, physikalische Medialität aus einer neuen, umfassenderen Perspektive heraus zu untersuchen; aus einer Perspektive, welche die Betrachtungen nicht sofort zwanghaft auf "wahr oder falsch" reduzieren muss und so letztlich breitere wissenschaftliche Erkenntnisse liefern könnte. Zugespitzt gesagt: Es gibt viele Gründe, dass es sich wissenschaftlich lohnt, physikalische Medialität selbst dann zu untersuchen, wenn man überzeugt ist, es handele sich NICHT um paranormale Phänomene. Darüber hinaus bietet dieser erweiterte Blick neue Wege, auf denen sich die Wissenschaft diesem faszinierenden Thema nähern und möglicherweise neue Einsichten gewinnen kann.
1. Die Erforschung der Physikalischen Medialität ist Aufgabe der Wissenschaft.
Was für Sie als Leserin oder Leser des Psi-Infos vermutlich kaum überraschend klingt, bleibt doch wichtig zu erwähnen. Denn weite Teile der Wissenschaft stehen allem Paranormalen derart skeptisch gegenüber, dass sie es reflexartig, ohne überhaupt hinzuschauen, als Aberglauben oder Unsinn abtun. Viel zu oft wird dabei vergessen, es entscheidet nicht das Thema, sondern die Vorgehensweise, ob etwas den Namen Wissenschaft verdient. Wissenschaft verfolgt das Ziel, unsere Welt systematisch anzuschauen, um sie besser zu verstehen. Was bei medialen Séancen passiert, ist in vielerlei Hinsicht noch überhaupt nicht verstanden. Selbst wenn man von vornherein annimmt, alles sei Betrug, bleiben viele Fragen: Warum bilden sich seit 150 Jahren immer wieder entsprechende Kreise, denen es in der Regel weder um Öffentlichkeit noch um finanzielle Interessen geht? Warum setzen sich immer wieder Wissenschaftler, aber auch andere ernstzunehmende Persönlichkeiten so intensiv und ernsthaft mit der Thematik auseinander? Warum waren und sind die Phänomene oft so ähnlich (auch in Zeiten, als noch nicht durch moderne Telekommunikation jede Idee global verfügbar war)? Warum setzt das Thema immer wieder solche Emotionen und Kräfte frei, dass sich selbst nüchterne Forscher in Glaubenskrieger verwandeln, denen jedes (noch so unwissenschaftliche) Mittel recht ist, um den Andersdenkenden zu „besiegen“?
2. Die Erforschung der Physikalischen Medialität offenbart, wie Wissenschaft heute funktioniert, wo sie ihre Defizite hat und wo Weiterentwicklung notwendig ist.
Die wissenschaftliche Methode hat uns mit ihrer Forderung nach Objektivität, Kontrolle, Wiederholbarkeit usw. weit gebracht - so weit, dass ihre Grenzen oft übersehen werden: Wie beeinflussen die menschlichen Wünsche, Glaubenssätze und Emotionen der Forscher die Erforschung dieser (äußerst emotionalen!) Thematik? Ist unser heutiges Wissenschaftssystem mit seinem starken Fokus auf „nützlichen“ Anwendungen (meist in einem engen wirtschaftlichen Sinn wie etwa die Wissenschaftsförderung zeigt) überhaupt der Aufgabe gewachsen, unvoreingenommen ein Phänomen zu erforschen, welches das vorherrschende Weltbild derart herausfordert? Wo hat die wissenschaftliche Methode ihre Grenzen und wie lassen sich diese erweitern, um etwa zu berücksichtigen, dass Kontrolle und Wiederholung bei vielen Aspekten des Lebens und des Menschen (Bewusstsein, Heilung, Liebe...) unrealistisch und unsinnig sind, ja, bestimmte Effekte möglicherweise sogar zerstören? Wie könnte eine erweiterte Wissenschaft aussehen, welche dem Bewusstsein, dem subjektives Erleben, der Innenschau einen angemessenen Platz im Weltbild gibt?
3. Physikalische Medialität stellt die ultimative Herausforderung an den Verstand und vorgefasste Meinungen dar, das macht sie zu einem wertvollen Wissenschaftler-Training.
Was in einer Séance zu erleben ist, stellt eine ernsthafte Herausforderung für den rationalen, durch unser "modernes Weltbild" geprägten Verstand dar. Eine Herausforderung, die so groß ist, dass viele Menschen reflexartig Zuflucht suchen bei der einfachen Erklärung "alles Betrug" und dann lieber nicht mehr so genau hinschauen. In diesem Sinn kann die Erforschung der Physikalischen Medialität ein perfektes Training für jeden Wissenschaftler sein, das unangenehme Gefühl des Nicht-Verstehens auszuhalten, ohne vorschnelle Schlüsse zu ziehen. Die Fähigkeit, in aller Demut zu sagen, „Ich habe keine Ahnung“, ist eine wichtige Voraussetzung für grundlegend neue Erkenntnisse. Diese Fähigkeit scheint vielen Wissenschaftlern ein Stück weit abhanden gekommen zu sein, vielleicht auch weil sich mit großartigen Versprechen besser Schlagzeilen machen (und Fördergeld gewinnen) lässt als mit vorsichtiger Zurückhaltung.
4. Die Kontroverse um Physikalische Medialität spiegelt die Mechanismen von weltbeherrschenden Glaubenskriegen wider.
Verdeckt oder offen ausgefochtene Glaubenskriege prägen das gesellschaftliche und politische Geschehen in unserer Welt: Religiöse Fundamentalisten gegen moderne, zivilisierte Werte, Kapitalismus gegen „Sozialismus“, politisch rechts gegen links, Materialismus gegen eine spirituelle Weltsicht oder FC Bayern gegen BVB: Wieso verlieren Menschen so oft ihre Vernunft, ihre guten Sitten oder gar jegliche Menschlichkeit, sagen "der Zweck heiligt die Mittel", um Andersdenkende zu bekehren oder gar gnadenlos zu bekämpfen? Es ist ein urmenschliches Thema mit immenser Tragweite, das sich auch im "Mikrokosmos" der Forschung zur Physikalischen Medialität beobachten und untersuchen lässt. Denn auch hier ist die Haltung zu dem Thema oft eine hochemotionale Frage. Und je größer die Emotionen sind, desto weniger helfen bekanntlich die Argumente. Wenn unterschiedliche Sichtweisen zu Glaubenskriegen führen, ist das gewiss der Forschung wert. Dabei kommt die Frage „Wer hat recht?“ frühestens an zweiter Stelle. Viel wichtiger scheint mir zu untersuchen, wie wir Menschen überhaupt erst einmal besser darin werden, mit verschiedenen Meinungen und Grundüberzeugungen gelassener umzugehen, um uns konstruktiv und behutsam in Richtung Zusammenarbeit und Synthese zu bewegen.
5. Ein Phänomen muss nicht bewiesen sein, um Hypothesen zu entwickeln - Physikalische Medialität kann interessante Impulse für andere Forschungsthemen geben.
Wenn in anderen Forschungsgebieten so viele bemerkenswerte Beobachtungen vorlägen wie zur Physikalischen Medialität, hätte man längst begonnen, die herrschenden Vorstellungen und Theorien daraufhin abzuklopfen, ob und wie sie sich anpassen ließen. Die Echtheit der Physikalischen Medialität muss keineswegs zuvor bewiesen sein, ja, man muss nicht einmal daran glauben, um sie testweise als real anzunehmen und entsprechende wissenschaftliche Gedankenspielerei zu betreiben. Das ist keineswegs unüblich: So ist etwa die Astrobiologie, die sich über das Leben auf anderen Planeten Gedanken macht, eine anerkannte Wissenschaft. Niemand sagt: "Ich will erst einmal einen Außerirdischen in meinem Labor untersucht haben, bevor ich mich mit so einem Quatsch beschäftige“. Wenn man bedenkt, dass schon der Nachweis von Planeten außerhalb des Sonnensystems eine recht wacklige Angelegenheit ist, steht die Physikalische Medialität hinsichtlich Messungen und Beobachtungen vergleichsweise gut da. Angenommen die Séance-Phänomene wie Ektoplasma, Apporte, Lichterscheinungen, Bewegungen von Gegenständen sind echt: Was hieße das für unser Weltbild? Welche Grundannahmen in Physik, Biologie, Chemie oder auch in Psychologie oder über die menschliche Wahrnehmung müssten hinterfragt werden? Vielleicht verstoßen viele Phänomene gar nicht so sehr gegen unser derzeitiges Weltbild, wie gerne reflexartig behauptet wird? Ich kann mir etwa vorstellen, das Elektromagnetismus, Erhaltungssätze oder auch die Prinzipien der chemischen Bindung gar nicht in Frage gestellt werden müssen. Und wenn man sich einmal wirklich bewusst macht, welch wunderbare Materietransformationen das Leben ständig, vom Stoffwechsel bis zur Fortpflanzung vollzieht, dann ist vielleicht auch Ektoplasma gar nicht so unglaublich - zumal viele biologische Prozesse auch noch nicht vollkommen verstanden sind. Auch zur Quantenphysik gibt es Querbezüge: Wenn in Séancen Materie andere Materie durchdringt oder Gegenstände aus dem Nichts auftauchen, mag das unglaublich sein - ähnliche Effekte sind jedoch im quantenphysikalischen Maßstab anerkannte Tatsachen (namens Tunneleffekt und Vakuumfluktuation). Vielleicht gibt es hier eine Verwandtschaft oder gar neue Impulse für die Frage der Quantenphysiker nach dem „Kollaps der Wellenfunktion“: Wie weit können sich Quanteneffekte in unsere Alltagswelt hinein auswirken?
6. Séancen sind aus Perspektive der Ritualforschung interessant.
Rituale spielen in der Geschichte der Menschheit eine fundamentale Rolle. Man denke etwa an Initiationsrituale, schamanische Heilrituale oder die Gottesdienste der verschiedensten Religionen. Der heutigen westlichen Welt scheint das Wissen um die Bedeutung von Ritualen leider weitgehend abhanden gekommen zu sein, sogar die Kirche scheint sich eher für Events als für Transzendenz zu interessieren. Séancen sind unter vielen Aspekten als Rituale zu verstehen. So ist etwa eine konzentrierte, gemeinschaftliche Ausrichtung wichtig, um die Verbindung zu einer jenseitigen Kraft herzustellen, und es gibt Regeln, Strukturen und rituelle Handlungen, die für Außenstehende oft unverständlich und schwer akzeptabel sind. Vor diesem Hintergrund ergeben sich interessante Forschungsansätze: Was unterscheidet Séancen von anderen Ritualen? Können sie verstanden werden als moderne Rituale in einer Welt, in der althergebrachte Rituale sinnleer und letztlich wirkungslos geworden sind? Vielleicht gibt es außerdem Parallelen zu systemischen Aufstellungen, die ja gewissermaßen auch ein modernes, wirksames Heilritual sind, das möglicherweise Kontakt zu nicht anwesenden oder gar verstorbenen Menschen herstellt und nutzt?
7. Physikalische Medialität kann wichtige Impulse für die Bewusstseinsforschung geben.
Die Erforschung des menschlichen Bewusstseins ist möglicherweise eine der wichtigsten heutigen Forschungsaufgaben. Einerseits sind grundlegende Fragen wie das Geist-Körper-Problem trotz intensiver Forschung (etwa mit bildgebenden Verfahren der Neurowissenschaften) nach wie vor unbeantwortet bzw. werden kontrovers diskutiert. Andererseits scheint die Entwicklung des menschlichen Bewusstsein – auf individueller wie kollektiver Ebene - ein entscheidender Schlüssel zu sein, um die anstehenden Menschheitsprobleme nachhaltig anzugehen. Physikalische Medialität kann einen neuen Blick auf Fragen des Bewusstseins liefern, zeigt sie doch einen bemerkenswerten Zusammenhang von physikalischen Wirkungen und menschlichen Bewusstseinszuständen (des Mediums und wohl auch der Sitzenden). Dabei könnte es zunächst sogar offen bleiben, ob die Phänomene „real“ sind oder durch Täuschung für die Teilnehmer authentisch und damit letztlich gleichermaßen wirkungsvoll hervorgerufen werden. Hier ergeben sich viele Bezüge und vielleicht auch Anregungen für andere Bewusstseinsforschungsthemen vom Geist-Körper-Problem über „energetische“ Heilverfahren bis hin zur Placebo-Forschung.
Oder doch: 8.?
Vielleicht ist an Physikalischer Medialität mehr dran, als der wissenschaftliche Mainstream heute akzeptieren will, und sie kann völlig neue Einblicke in unsere Welt und unser Dasein eröffnen?