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Kurzgeschichten
Kurzgeschichten - Beispiel
Erschienen in: Anthologie Nadelspitze, Literareon-Verlag, 2003. S. 45-48.
(Zweiter Preis im Kurzgeschichten-Wettbewerb "Nadelspitze")

Hemden, Nadeln und Radiergummis
Eckhard Kruse

Ich möchte nicht versuchen, zu rechtfertigen, was nicht zu rechtfertigen ist. Ich bekenne mich schuldig. Doch ich möchte zumindest erläutern, um Verständnis bitten - vielleicht auch warnen: warnen, dass die Gefahr überall lauert, dass sie sich auf leisen Sohlen anschleicht, getarnt im Alltäglichen, sich einnistet und erst viel später, wenn sie längst ihr Opfer fest umklammert hält, zu erkennen gibt. Nicht wenige erliegen erst dem Genuss, dann dem Zwang. Beiläufigkeiten des Alltags, harmlos für sich allein genommen, dreifach verknüpft können sie ein Leben aus der Bahn werfen. Ich bin Täter und Opfer. Ich bin einer von denen.

Bei mir begann es mit Hemden. Mit dem neuen Job eroberten sie mein Leben. Da unsere Kunden am gebügelten Weiß die Fachkompetenz eines Mitarbeiters erkennen konnten, gab es in der Firma einen unterschwelligen Wettkampf um Bügelfrische und Faltenfreiheit. Meine Kollegen machten es vor und ich machte mit, erschien es mir doch als ein kleines Opfer für gute Arbeit und gutes Gehalt. Heute weiß ich: Es war der erste Schritt.

Eigentlich bevorzuge ich eher legere Kleidung. Meine Freundin nennt mich gelegentlich "Modepapst" und lacht dabei. Ich bin nicht der Typ, der samstags durch Fußgängerzonen und Geschäfte pirscht, um nach stundenlanger Schnäppchenjagd Plastiktüten voller Kleidertrophäen nach Hause zu schleppen. Anders gesagt: Wenn ich die kalten Fließen an Ferse oder Ballen spüre, gibt es ein Fünferpack Socken; wenn die Gummizüge schlabbern, ein Dreierpack Unterhosen. Größe M, das ist bald herausgefunden und sorgt für reibungslose Beschaffung bis ans Lebensende. Socken und Unterhosen aus Automaten: Das wär’s. Und Hemden auch. Aber dass Hemden nicht aus Automaten verkauft werden, versteht jeder, der weiß, welch Geistes Kind diese selbsternannten textilen Könige sind. Voller Stolz und Prahlsucht kommen sie daher, eingeschweißt in durchsichtige Plastikverpackungen, als trügen sie ihr eigenes Schaufenster mit sich herum; wichtigtuerisch, von Nadeln, Pappen und Kunststoffstreifen in Form gehalten – wie tote Schmetterlinge in ihren Glasschaukästen. Socken, Unterhosen, Pullover: die kaufe ich, reiße das Etikett ab und ziehe sie an. Wenn die neuen Schuhe passen, bleiben sie gleich an, wenn ich den Laden verlasse. Doch bei Hemden ist es anders. Die wollen selbst erst einmal ausgezogen werden, bevor man sie anziehen kann. Es gibt wahrlich genug Gründe, um auf Hemden böse zu sein.

Unter solchen oder ähnlichen Gedanken präparierte ich wieder einmal ein neues Exemplar meiner Arbeitskleidung. Ich schälte das Hemd aus seiner knisternden Folie, entfernte Nadeln, zog Plastiklaschen und Kartons aus Kragen und Brust, bis das Stück schlaff, faltig und etwas weniger hochnäsig aussah. Mit dunklen Gedanken ließ ich das Bügeleisen über den Stoff schlittern - Na, Herr Lauinger, neues Hemd? – Noch einmal sollte mich mein Chef nicht so bloßstellen wie damals, als die rechtwinkligen Falten auf Brust und Bauch meine Unerfahrenheit mit jungfräulichen Hemden verraten hatten. Mittlerweile war die Vorbereitung eines neuen Hemdes Routine. Doch Routine ist die Mutter des Leichtsinns.

Der nächste Arbeitstag verlief gewöhnlich, wenn man einmal von der Hemdeinweihung absah, die ja nur hin und wieder vorkam. Ich plauderte mit Kollegen, verschob Zahlen auf dem Computerbildschirm, wuchtete Aktenordner und blätterte in Angeboten und Aufträgen. Ich nehme zumindest an, dass es so war, denn so verlaufen meine Arbeitstage immer und dieser war gewiss keine Ausnahme – bis auf einen scheinbar bedeutungslosen Zwischenfall am Vormittag. Etwas piekste mich im Nacken. Ich rutschte auf meinem Bürostuhl herum, streckte mich, um mit der Rechten den Rücken abzutasten, zupfte am Hemd, ließ den Zeigerfinger zwischen Hals und Kragen umherwandern und spürte schließlich eine Nadelspitze. Offensichtlich hatte ich das neue Hemd zu flüchtig präpariert und die Nadel übersehen oder nicht korrekt entfernt. Ich zog sie heraus und wie es so mit Nadeln ist, wusste nicht wohin damit. Die Hosentasche ist kein guter Aufbewahrungsort für solche Dinge, auf den Schreibtisch gelegt drohte die Gefahr, in einem unbedachten Moment in sie hineinzufassen, und auch der Mülleimer erschien mir als nicht angemessen, war die Nadel doch praktisch fabrikneu und hatte noch keine sinnvolle Aufgabe erfüllt. Zu Hause sammelte ich die Nadeln daher in einer Streichholzschachtel in der vagen Vorstellung, sie irgendwann einmal gebrauchen zu können.

Ich tat also das, was wohl jeder in meiner Situation tun würde. Man gebe jemandem eine Nadel und er wird sie – wenn zur Hand – in einen Radiergummi hineinpieksen. Das ist normal, das ist verzeihlich. Kleine Unterschiede gibt es höchstens in der Art, in der verschiedene Personen dies tun. Psychologen können daraus gewiss den Charakter eines Menschen ableiten: Ist es ein vorsichtiges, radiergummischonendes Pieksen, gerade so, dass die Nadelspitze keinen Schaden anrichtet aber auch nicht herausfallen kann? Oder wird sie vielleicht von einem Kompromissmenschen genau zur Hälfte im Gummi versenkt? Meine Art ist beides nicht. Doch wer wollte dies gleich als Zeichen von Fanatismus deuten? Ich drückte die Nadel tief in das weiche Braun. Als schließlich nur noch der kleine Silberkopf herausschaute, hämmerte ich das Gummi auf die Tischplatte, bis die Nadel vollständig, praktisch unsichtbar, im Gummi – und damit zumindest vorläufig aus meinem Bewusstsein - verschwunden war. Für sich genommen, war auch dies ein belangloses Ereignis, doch in der Kette der Geschehnisse bildete es ein zweites Bindeglied.

Stecknadeln in Radiergummis sind wie Mordopfer in Badeseen oder Parteispenden auf Geheimkonten. Irgendwann kommen sie wieder ans Tageslicht und werfen das Leben des einstmaligen Missetäters aus der Bahn. In meinem Fall dauerte es beinahe ein Jahr. Radiergummis haben in den heutigen computerisierten Büros bekanntlich ein beschauliches Dasein, so dass sie nur noch selten verwendet und sehr langsam aufgerieben werden. Es soll Radiergummis geben, die ihre Besitzer überlebt haben.

Es war wieder ein ganz normaler Arbeitstag. Mein Kollege hantierte mit Papier und Bleistift, wollte etwas korrigieren und fand seinen Radiergummi nicht. Er lieh sich meinen. Ich lauschte dem gemütlichen Rhythmus aus Rubbelgeräuschen und dem Wischen von Gummispänen. Plötzlich: ein Kratzen, ein Reißen; Geräusche, die entstehen, wenn aus Radiergummis herauswachsende Nadelspitzen wichtige Formulare zerfetzen. Dann war ein Fluch zu hören. Ich blickte meinen Kollegen fragend an. Auch nachdem ich begriffen hatte, was geschehen war, änderte ich meine unbeteiligte Miene nicht.

Als ich das nächste Mal ein Hemd gekauft hatte und mich wieder mit der Nadelsuche beschäftigte, war bereits eine Veränderung in mir vorgegangen. Ich entfernte die Nadeln, doch eine legte ich nicht wie gewohnt zu ihren Kolleginnen in die Streichholzschachtel, sondern steckte sie in die Manschette eines Ärmels. So nahm ich sie am nächsten Tag mit zur Arbeit. Ich tat dies ohne Überlegung oder Vorsatz; es geschah einfach, so wie die vorhergegangenen, alltäglichen Zufälligkeiten geschehen waren. Doch es war der dritte Schritt. Ich war der Faszination erlegen: Stecknadeln schlummern wie Zeitbomben monatelang in Radiergummis, doch plötzlich brechen sie ans Tageslicht durch und richten wahllos Schaden an. Das perfekte Verbrechen im Miniaturformat. Derjenige, der diese Nadel dort einst platziert hatte, konnte längst nicht mehr herausgefunden werden. Und während die Nadel ihr böses Werk verrichtete, pflegte er womöglich in einem fernen Teil der Welt sein Alibi. Selbst wenn er nicht einmal mehr am Leben wäre, würde sein Werk wie ein Uhrwerk bis zum vorgeschriebenen Ende unaufhaltsam ablaufen. Ich spürte den Hauch von Ewigkeit, den Hauch von Unsterblichkeit.

So begann ich, Radiergummis von meinen Kollegen zu leihen, um Nadeln darin zu versenken. Monate später tönte aus einem Nachbarbüro ein Fluch oder ein Kollege fragte mit blutrotem Zeigerfinger nach einem Taschentuch. Ich musste mich zunehmend anstrengen, um die Fassade unwissender kollegialer Anteilnahme aufrechtzuerhalten. Gefühle von Triumph und Faszination brannten in mir und ließen mich die Nächte noch solchen Erfolgen nicht mehr ruhig schlafen, bis ich einen neuen Anschlag eingefädelt hatte.

Ich machte weiter, ich wollte mehr, es wurde schlimmer. Die Nadelsammlung in meiner Streichholzschachtel leerte sich, ich kaufte mehr Hemden, als ich bei der Arbeit tragen konnte, nur um jene Nadeln zu ernten, die aufgrund ihrer kleinen Köpfe für meine Zwecke besonders geeignet waren. Und ich brauchte viele Nadeln, denn ich ging mittlerweile sogar in Schreibwarenläden, um dort die Radiergummis in den Auslagen zu präparieren. Dank der Erfahrung mit meinen Kollegen konnte ich genau vorhersagen: Wenn ich die Nadel auf diese oder jene Weise in den Radiergummi stecke, wird sie bei mäßiger Radiertätigkeit sechs Monate nach Kauf des Radiergummis in Aktion treten.

Es ist zu einem Teil meines Lebens geworden. Seit Jahren geht es so und wie jede andere Sucht bestimmt es mein Dasein. Wenn ich nur einen Radiergummi sehe, werde ich unruhig, dann kann ich einfach nicht anders. Die Streichholzschachtel mit den Nadeln trage ich stets bei mir. Wenn ich das Haus verlasse und feststelle, dass ich die Schachtel vergessen habe, gehe ich zurück und hole sie. Man weiß schließlich nie, was einem sonst für Gelegenheiten entgehen könnten; ob man nicht irgendwo einen Radiergummi angetroffen hätte. Sucht lässt keine Wahl. Ich trinke keinen Alkohol, ich habe nie geraucht, und ich trage auch nicht heimlich Damenunterwäsche. Aber ich verstecke Nadeln in Radiergummis.

Ich schildere dies, damit Sie uns, wenn schon nicht verzeihen, so doch wenigsten verstehen können. Ja, uns, denn ich bin nicht allein. Ich habe viele Leidensgenossen. Diejenigen, die im Cafe Salz in die Zuckerstreuer füllen und im Restaurant die Ketchupverschlüsse locker drehen; die Kaugummis in Münztelefonschlitze kleben; die vor grünen Ampeln bremsen, um selbst als letzter bei Gelb über die Kreuzung zu huschen. Wir sind überall, doch wir leben in der Anonymität. Niemand kennt uns persönlich. Wir verkehren in keinem Verwandten- oder Freundeskreis. Doch die Folgen unserer Taten spürt jeder. "Wer macht denn so etwas? Was soll das denn? Wie kann man nur ..." – diese Fragen hat sich jeder schon gestellt. Ich will die Antwort darauf nicht länger als Geheimnis mit mir herumtragen. Die Welt soll uns kennenlernen und verstehen, was in uns vor sich geht. Ja, wir sind es, die am Ende der Rolltreppe stehen bleiben, bis die aufgestauten Menschen auf den Stufen rückwärts gehen müssen; die immer die Hustenanfälle in den leisen Sätzen des Konzerts bekommen; die in den Zug einsteigen, bevor ausgestiegen wurde; die ihren Einkauf mit hundert Münzen bezahlen; die die Scherben auf den Radweg streuen. Wir spicken den Alltag mit unseren Nadelspitzen. Wir, die Radiergummisaboteure, Einkaufswagenquerparker, Kaugummikleber, Zweiparkplatzbeleger, namenlos, überall, allgegenwärtig, schuldig, süchtig, gierig, den anderen das Leben zu erschweren, Schicksal zu spielen, und doch selbst dem Schicksal erlegen, selbst nur Opfer des Alltags. Opfer von Hemden, Nadeln und Radiergummis.

© 2003 Eckhard Kruse, Heidelberg